Original Interview: Doris Iding mit Christina Wippermann für die Zeitschrift Yoga aktuell
(Artikel Erscheinung im Februar 2015)
Am 09.12.2014 10:53 schrieb Doris Iding:
Liebe Frau Wippermann,
1. Was genau verstehen Sie unter Yogamedizin?
Wippermann: Der ganzheitliche Ansatz ist in der Medizin immer mehr gefragt. Denn die Forschung zeigt, Körper und Psyche beeinflussen sich wechselseitig. In Medizin und Psychotherapie kann Yoga hier eine sinnvolle Ergänzung für Ärzte und Therapeuten liefern.
Unter dem Begriff Yogamedizin verstehe ich eine medizinische yogische Grundhaltung. Yogamedizin ist für mich der Prozess der Interaktion zwischen Behandelndem wie Arzt/Therapeut und Klient/Patient um die Eigendynamik des Selbstheilungsprozesses zu aktivieren. Ich arbeite mit Yogamedizin, indem ich Yoga aus systemischer und hypnosystemischer Perspektive betrachte und diese Ansätze mit meiner yogischen Wissensstruktur vernetze. Diese Verbindung bietet für mich in beiden Richtungen einzigartige Synergieeffekte und diese zeigen wiederum neue Handlungsspielräume für Medizin und Therapie auf. Im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes der Medizin vertrete ich eine therapeutische Haltung der Wertschätzung all dessen, was sich während des Behandlungsprozesses zeigt. So wird das subjektive Erklärungsmodell des Patienten/Klienten für die Funktionen seiner Stärken und Einschränkungen seines Organismus berücksichtigt. Ebenso werden Symptome als Informationsquellen wertschätzend betrachtet um die dahinter liegenden Bedürfnisse zu verstehen. Thematische Anhaltspunkte für die psychologische Bedürfnispyramide bietet im Yoga beispielsweise die Chackrenlehre.
Yogamedizin ist zudem die Heilkunde vom ganzheitlichen Selbstheilungsprozess mit Yoga. Das bedeutet, es geht darum, durch gezielte Setzung von Impulsen auf den Bewegungsapparat, das autonome Steuerungssystem und das mentale Steuerungssystem, die Selbstheilungskräfte des Gegenübers zu aktivieren. Die Eigendynamik der Kommunikation dieser Systeme ist die spezifische Wirkung von Yoga (vgl. Dalman und Soder, 2013). Im Sinne der Salutogenese und Pathogenese kann so die Handlungsmöglichkeit und Selbstwirksamkeit des Patienten verstärkt werden um mit seinem Körper, Atem und Geist in Kontakt zu kommen. Eine besondere Rolle spielt in der Yogamedizin die bewusste Atmung als Instrument der Entschleunigung um die Dinge aus einer entspannten Perspektive zu betrachten. Im Yoga gehen wir davon aus, dass es etwas Heiles in uns allen gibt. Diesen heilen Kern zu aktivieren und den Organismus auf dieses „Wofür“ auszurichten ist für mich Yogamedizin. Es geht um die Interaktion in der Yogamedizin zwischen Arzt/Therapeut und Klient. Ich sage meinen Klienten immer - das Yoga muss sich Ihnen anpassen - dafür gibt es über 6000 Asanas - und nicht Sie müssen sich verrenken für das Yoga. Im Leben ist es oft auch so, dass wir uns das heraussuchen müssen, was zu uns passt um nicht daran zu zerbrechen, rigiden Strukturen hinterherzulaufen, die uns „krank“ machen. Ich bin mit dieser Sichtweise nicht alleine. So bietet Dipl.-Psych. Jenny Schlegel ein Seminar „Yoga und Psychotherapie“ für Psychologen zur Ausbildung der psychologischen Psychotherapeuten an der Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) Berlin an.
Wippermann: Das ist ein Prozess der weiter andauert. Angefangen hat es, als ich 2005 sechs Monate in Indien gelebt und dort die lokalen Heiler in Rajasthan und Gujarat über ihr medizinisches Wissen, ihre Rituale und die lokale Pflanzenheilkunde Vorort befragt habe. Meine Erfahrungen dort und das Studium der Psychologie und Medizinethnologie lehrte mich Medizin als Pluralismus zu verstehen und 2008 im Cultural Consultation Service im Jewish Hospital in Montréal Canada lernte ich ganzheitliches professionelles multidisziplinäres Arbeiten kennen. Insbesondere überzeugte mich die Berücksichtigung des subjektiven Erklärungsmodells des Patienten für seine Erkrankung beim Behandlungsprozess. In meiner Yogalehrerausbildung bei Dipl.-Psych. Dietmar Mitzinger (Autor des Buches „Yoga in Prävention und Therapie“ vom deutschen Ärzteverlag) begegnete ich unterschiedliche Traditionen wie Iyengar Yoga, Sivanada Yoga und Ashtanga Yoga.
Meinen Weg zur Yogamedizin habe ich in meiner Yogapraxis und vielen Gesprächen und Austauschprozessen mit Menschen unterschiedlicher Professionen und Kulturen in Gujarat, Heidelberg, Montreal, Rishikesh, Haridwar und in den Zwischenräumen gefunden. Insbesondere eine wichtige Erfahrung prägte meinen Weg. Auf einer mehrmonatigen Yogareise 2011 in Indien lernte ich den Sikh und Yogi Surinder Singh kennen und er antwortete auf eine Frage seines Schülers welcher Yogalehre er angehöre „wenn dann wohl seiner eigenen Lehre“. Und in einem darauf folgenden Retreat lernte ich immer mehr und mehr zu akzeptieren, dass ich meinen Weg gehen darf.
Insgesamt lerne ich in Bezug auf Yogamedizin viel autodidaktisch durch meine Yogapraxis - durch das Vernetzen meines unterschiedlichen Wissenszuwachs aus meinem Studium der Psychologie, Ethnologie und systemischen und hypnosystemischen Therapie mit meiner Praxis und die wertschätzende Offenheit zu sehen und zu spüren, was von meinem Gegenüber kommt und gemeinsam den Lösungsweg zu erforschen. Und zwar für seinen Körper, seine Wahrnehmung des Problems und seine Möglichkeiten des Alltagstransfers. Gerade auch meine Dissertation an der Medizinischen Fakultät Heidelberg über den adoleszenten Entwicklungsprozess der Salutogenese/Gesundheitsförderung bestärkte mich darin, dass die Förderung des Selbstwertgefühls und das Zugehörigkeitsgefühl für den Kohärenzsinn im Leben wichtig sind. Dieser Kohärenzsinn besagt, dass das Leben als verstehbar, handhabbar und sinnhaft zu erleben, das psychische und physische Wohlbefinden beeinflusst. Und das erlebe ich jeden Tag in der Praxis. Mit Yogamedizin kann ich diesen Kohärenzsinn erlebbar machen und die Selbstwirksamkeit meines Gegenübers stärken, so dass er selbst weiß, wie er sich selber etwas Gutes tun kann um für seinen Heilungsprozess zu sorgen.
3. Welche Menschen kommen zu ihnen, um sich yogamedizinisch behandeln zu lassen?
Wippermann: Oft sind es Menschen, die nach Antworten suchen. Gemeinsam machen wir uns dann auf den Weg unter Einbezug des Körpers, des Atems und des Geistes. Besonders Personen, die psychosomatische Beschwerden haben oder chronische Erkrankungen, aber auch welche, die hohe psychische Belastungen erleben, erfahren durch Yogamedizin einen neuen Handlungsspielraum, den sie selbst mitsteuern können. Das ist erstmal ungewohnt, birgt dann aber viele Möglichkeiten der Selbststeuerung der Gesundheitsförderung. Prinzipiell kann jeder zu mir kommen, der seine Gesundheit auf ganzheitlicher Ebene fördern möchte.
4. In welchen Bereichen hat sie sich als besonders wirksam gezeigt?
Wippermann: Aus meiner Erfahrung ist die Faszination der Wirkung von Yogamedizin das Zusammenspiel vieler Faktoren. Yogamedizin wirkt auf unterschiedlichen Ebenen und verbindet sie. Insbesondere stressbedingte Erkrankungen können gemildert werden. Meine positiven Erfahrungen reichen von Klienten mit Burnout Syndrom, Angst- und Panikstörungen, Depression, Migräne, Bluthochdruck, Reizdarmsyndrom, bis hin zu Parkinson.
Durch eine parallele Behandlung von Körper, Atem und Geist wird die ganzheitliche Erfahrung des Klienten gestärkt. Er lernt beispielsweise, dass der Atem ihm hilft, Körper und Geist zu verbinden. Durch Möglichkeiten der gezielten Steuerung dieses Atems und damit der Stressreaktionsregulation des vegetativen Nervensystems, erfährt er eine erhöhte Selbstwirksamkeitserwartung. Gleichzeitig können gezielte Körperhaltungen wiederum dazu beitragen neue sensomotorische Marker zu setzen, wenn es um die Speicherung neu erworbener Erfahrungen geht.
Wippermann: Bei der Yogamedizin ist meine Erfahrung, dass sie besonders dann wirkt, wenn meine Klienten regelmäßig ihre Praxis vertiefen und so die Plastizität des Gehirns genutzt wird, d. h. neue Lernprozesse vertieft werden können. Dazu braucht es Wiederholung des neu Gelernten.
Aber manchmal kann schon eine Sitzung ausreichen um einen neuen Zugang zum eigenen Körper, Atem und Geist kennen zu lernen. Letzte Woche hatte ich einen Patienten mit Depression, der nach der Stunde mit einem „Aha“-Erlebnis nach Hause gegangen ist und erstmal „sprachlos war“ über das neue viel bessere Erleben seiner selbst. Ich bin gespannt, wie es nächste Woche weiter geht.
6. Welche Krankheiten lassen sich nicht mit Yogamedizin behandeln?
Wippermann: Yogamedizin kann eine unterstützende Maßnahme in der Medizin sein. Wie Eingangs beschrieben geht es hier um eine Haltung. Dabei ist auch wichtig als Therapeut eigene Grenzen wahrzunehmen und in Kooperation in einem ganzheitlichen Team zusammen zu arbeiten und das Expertenwissen von Kollegen zu nutzen. Welche Behandlung braucht dieser einzigartige Klient? Wenn die Yogamedizin als Lebensphilosophie verinnerlicht wird, geht es um eine sensible Vorgehensweise und die Achtsamkeit dessen, was da ist und des Umgangs damit. Somit kann der Umgang mit der Lebenssituation und den Einschränkungen auch Ziel der Therapie sein. Es geht darum, Yoga als Impuls zu verstehen, die Selbstheilungskräfte und Eigendynamik dieser zu aktivieren. Es gibt nicht die Asana oder die Praxis für die Störung, sondern vielmehr geht es um das sensible Zwischenspiel zwischen Therapeut und Klient gemeinsam zu erforschen, was für diesen Klienten, mit seinem Körper, seinem Erleben und seinen Bedürfnissen und Wünschen der richtige Weg ist. In diesem Sinne kann dann in der Erfahrungspraxis erprobt werden, wie man mit persönlichen Grenzen umgeht um sie respektvoll zu würdigen. Yogamedizin ist keine Wunderheilung sondern intensive Impulssetzung und wertschätzende Beziehungsdynamik zwischen Arzt/Therapeut und Klient.
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